Kollektiv Turmstaße: „Ich bin ein Fan von Hoffnung und Liebe!“ (2024)

Herr Plagemann, beginnen wir das Gespräch mit einer Zeitreise ins Jahr 1999 in die WG in der Turmstraße in Wismar. Was fällt Ihnen als erstes ein?

(lacht) Ja, das waren schon wilde Zeiten damals. Die elektronische Musik, die gerade richtig im Kommen war, hatte mich voll angefixt. Mein Partner Christian, der ja leider nicht mehr bei unserem Projekt dabei ist, und ich waren sehr jung. Wir waren gerade aus der Lehre raus und haben in unserer WG die Musik voll aufgesaugt, Party gemacht, viel gefeiert, woraus ja dann das Kollektiv Turmstraße entstanden ist.

Warum ausgerechnet elektronische Musik? Es hätte ja auch Heavy Metal oder HipHop sein können?

Das ist aus Versehen passiert. Vielleicht waren es die falschen Freunde zur falschen Zeit (lacht)? Vielleicht lag es auch daran, dass mein Interesse an elektronischer Musik bereits etwas früher geweckt wurde. Ich hatte einen Freund, der einen Amiga 500 besaß, mit dem er damals auf nur vier Spuren erste Skizzen für Techno erstellen konnte. Richtig hartes Zeug hat der gemacht – das fand ich derart spannend, dass ich ich mir sofort die Software gekauft habe und selbst angefangen habe, Musik zu produzieren. Man muss dazu sagen, dass die Technik noch nicht ausgereift war, man musste zum Beispiel jede Note einzeln über die Tastatur eingeben. Mit den heutigen Möglichkeiten ist das gar nicht zu vergleichen.

Sprechen wir über das neue Album: Vieles ist anders, als bei den vorherigen Produktionen. Was genau hat sich verändert?

Zum einen ist das Kollektiv noch kleiner geworden, als es eh schon war. Mein Partner Christian ist mittlerweile aus privaten Gründen ausgestiegen und auch der Sound hat sich verändert. Unser letztes Album „Rebellion der Träumer“ aus 2011 war für uns relativ erfolgreich und hat die Messlatte noch einmal deutlich höher gelegt. Wir sind vom Techno zum House und wieder zurück und haben uns viel mit UK-Beats beschäftigt. Vieles davon ist in die aktuelle Produktion mit eingeflossen.

Wie kam es denn zur Trennung – und haben Sie noch Kontakt zueinander?

Ja klar, wir haben noch Kontakt. Die Trennung war letztlich ein natürlicher Prozess, der durch die Covid-Zeit beschleunigt wurde. Christian ist zu der Erkenntnis gekommen, dass der Job nicht immer so einfach ist, wie es scheint. Man ist viel unterwegs, jettet, legt auf Partys und Festivals auf – da bleibt wenig Zeit für Kinder und Familie, oft nicht mal an Feiertagen. Letztlich hat er sich für mehr Privatleben entschieden und ist ausgestiegen.

Haben Sie darüber nachgedacht, nach dem Weggang von Christian Hilscher das Projekt umzubenennen?

Der Gedanke war da, das hätte man machen können. Aber: Obwohl Kollektiv Turmstraße nicht zu 100 Prozent mein Projekt war, identifiziere ich mich zu 100 Prozent damit. Als Produzent, der immer die Hauptarbeit hatte, fiel es mir schwer, das, was in den vergangenen 20 Jahren an Historie und Diskographie entstanden ist, einfach über Bord zu werfen oder in ein anderes Projekt zu integrieren. Ich habe tatsächlich viel darüber nachgedacht, das Thema hat mich emotional sehr berührt – am Ende konnte ich mich einfach nicht trennen und habe beschlossen, das Projekt alleine weiterzuentwickeln.

Auffällig ist, das auf Ihrem aktuellen Album viel gesprochen wird, es gibt Gedichte, in denen es um Liebe, Sehnsucht und Erwachen geht. Inwieweit greifen Sie damit den aktuellen Zeitgeist auf?

Ich weiß nicht, ob ich damit den Zeitgeist aufgreife oder treffe. Ein Album ist für mich stets ein Projekt, das ein Konzept hat. Und das ist bei „Unity Of Opposite“ nicht anders. Da die einzelnen Titel aber diesmal musikalisch sehr unterschiedlich sind, brauchte ich einen roten Faden, der das Ganze miteinander verbindet. Ich bin ein Fan von Liebe und Hoffnung, so etwas habe ich immer schon einfließen lassen. Allerdings bin ich jetzt kurz vor der Veröffentlichung schon ein wenig aufgeregt, wie das Album ankommen wird – ich kann es tatsächlich nicht einschätzen.

Zu Beginn einiger Tracks haben Sie Gedichte von Rainer Maria Rilke einsprechen lassen. Warum ausgerechnet Rilke?

Rilke ist ein großartiger Dichter gewesen mit viel Gefühl für Melancholie, die manchmal mit einer gewisse Dunkelheit einhergeht, aber trotzdem immer voller Hoffnung ist – und voller Liebe. Liebe spielt bei ihm eine große Rolle, genau wie bei mir. Es gibt da also einige Parallelen. Tatsächlich bin ich auf Rilke erst bei der Produktion dieses Albums gestoßen. Die Idee mit den Gedichten hatte ich schon länger, weswegen ich mir auf YouTube und auf diversen Lyric-Channels von professionellen Sprechern gesprochene Gedichte angehört habe. Ich muss zugeben, dass ich fürs Lesen nie die Emotion entwickeln konnte – aber man hört Gedichte anders, als man sie liest. Deswegen habe ich mir auch eine professionelle Sprecherin ins Boot geholt.

"Die DJ-Blase wird in den nächsten Jahren platzen.“

Welche Rolle spielt bei der Produktion elektronischer Musik mittlerweile Künstliche Intelligenz?

Tatsächlich ist das ein großes Thema, wenn auch nicht neu. Es gibt seit Jahren schon Vorläufer der KI, also Programme, die helfen, Abläufe zu automatisieren oder zu verändern, aber das, was jetzt kommt, ist um einiges krasser. Ich bin da sehr interessiert und habe keine Angst, auch, weil ich erstmal nicht sehe, dass mich die KI ersetzen wird. Ich sehe das eher als Unterstützung, auch wenn es aktuell noch einige Probleme beim Interface, also mit der Schnittstelle, gibt. Softwaremäßig gibt es bereits gute Plugins und Tools, die bereits Produziertes komplett verändern oder in eine andere Richtung lenken können. Das finde ich mega-spannend, auch, weil es noch einfacher werden wird, Musik zu machen.

Inwiefern?

In den 1980er Jahren konnte man nur professionell produzieren, wenn man ein großes Studio hatte. Das war auch Voraussetzung dafür, dass ein Album überhaupt in die Geschäfte und Plattenläden kam. Das hat sich Mitte der 1990er Jahre geändert, da fing es an, dass man elektronische oder gesampelte Musik oder HipHop zu Hause am Computer machen konnte. Als es dann in den 2000ern mit Laptops möglich war, Plugins zu benutzen, hat eine Art Demokratisierung der Musik stattgefunden: Plötzlich begannen Leute Musik zu machen, die vorher gar keinen musikalischen Impact hatten, also weder Gitarre gespielt oder irgendetwas anderes gelernt hatten, einfach nur, weil sie es konnten. Gerade elektronische Musik war da ein Abholer, weil sie relativ simpel strukturiert ist. Es gibt mittlerweile so viele Produzenten und DJs, die mit ihren Talenten und Fähigkeiten die großen Produzenten zum Teil weit überflügeln. Und jetzt wird es Dank KI noch anders werden, denn für die nächste Generation von Produzenten wird die Arbeit mit Künstlicher Intelligenz normal sein. Es ist eine Evolution, die gerade in der Musik stattfindet. Von der E-Gitarre und großen Studios sind wir jetzt bei kleinen Laptop gelandet, mit denen man vom Sofa aus hochgradige Produktionen erstellen kann.

Wohin könnte die Reise gehen?

Das kann niemand beantworten. Aktuell stelle ich fest, das vor allem in der elektronischen Musik der Live-Aspekt zurückkommt, weswegen ich mir sicher bin, dass eines passieren wird: Die DJ-Blase wird in den nächsten Jahren platzen. Nicht, dass es ein totaler Crash wird, aber ich glaube, es wird uninteressanter, DJ zu sein. Weil die Performance, die ein DJ abliefert, simpel ist. Deswegen machen es auch so viele. Ich bin überzeugt, dass die Qualität durch Live-Shows mehr an Stellenwert gewinnen wird. Elektronische Bands wie Rüfüs du Sol machen es schon seit längerem vor oder Bicep, die eigene Konzerte mit reinem UK-Sound spielen. Live-Musik und auch Entertainment wird wieder eine größere Rolle spielen, riesige visuelle Shows, wie sie beispielsweise Afterlife machen, sind hier zu nennen. Waren es früher Rockkonzerte, die der Höhepunkt eines Musikers waren, dann sind es demnächst große Live-Shows und Events, die sich vom bloßen DJ-Sein fortbewegen. Ist zumindest meine Meinung. Aber wer weiß, vielleicht wird es in einigen Jahren auch nur noch DJs geben (lacht).

Information

Über den Künstler

Nico Plagemann kommt aus Wismar und ist als Musiker mit „Kollektiv Turmstraße“ bekannt geworden. Nach dem Ausstieg seines Partners Christian Hilscher betreibt er das Projekt seit diesem Jahr solo. Am 10. November ist sein neuestes Album „Unity Of Opposites“ erschienen.

Gegründet hat sich das Kollektiv 1999 in der Turmstraße 13b in Wismar. Diese Adresse gab dem Duo den Namen. Wismar war also quasi der Ausgangspunkt für eine musikalische Karriere, die bis heute anhält. Turmstraße, oder besser: Nico Plagemann, ist seit vielen Jahren einer der gefragtesten Acts mit Auftritten auf den ganz großen Festivals wie beispielsweise dem Tomorrowland sowie in den besten Clubs und auf Partys von Brasilien bis Australien. Er gehört weltweit zu den meistgebuchten Live-Acts in der elektronischen Musikszene.

Kollektiv Turmstaße: „Ich bin ein Fan von Hoffnung und Liebe!“ (2024)

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